Was bedeutet es, den „Zehnten“ zu geben?
Das sogenannte „Geben des Zehnten“ ist ein in christlichen Kreisen weit verbreiteter Brauch. Doch was bedeutet es und was steht hinter diesem Brauch?
Wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, ob ich die Gabe des Zehnten gutheiße, hängt meine Antwort davon ab, wie ausführlich ich sie begründen kann. Habe ich keinen Raum für eine Erklärung, unterstütze ich das Geben des Zehnten. Doch in diesem Beitrag werde ich erklären, warum das Thema differenzierter betrachtet werden sollte.
Das heutige Verständnis vom Geben des Zehnten
Unter dem Geben des Zehnten verstehen Christen, dass sie 10% ihres Einkommens spenden (10%-Regel). Auch wenn es in Detailfragen unterschiedliche Ausgestaltungen gibt (z.B. ob vom Netto- oder vom Brutto-Einkommen), so herrscht über diese Definition weitgehender Konsens.
Ziel der Spende ist in Anlehnung an 4. Mose 18,21 häufig die örtliche Kirchengemeinde, die uns ganz persönlich „geistlich versorgt“. Empfänger können aber auch generell christliche Projekte sein.
Eine biblische Bestandsaufnahme zum Zehnten
Häufig wird das Prinzip des Zehnten mit dem mosaischen Gesetzt in Verbindung gebracht und damit als nicht mehr zu erfüllende Gesetzlichkeit abgelehnt. Doch ein Blick in die Bibel zeigt, dass die Ursprünge des Zehnten deutlich älter sind als das alttestamentliche Gesetz:
1. Abraham
Die erste biblische Erwähnung eines Zehnten finden wir in 1. Mose 14,20. Abraham (damals noch Abram) kehrte siegreich aus der Schlacht gegen neun Könige zurück, in der er Lot und andere Gefangene befreit hatte. Auf dem Heimweg begegnet ihm der sagenumwobene Priesterkönig Melchisedek. Abraham gibt ihm aus Dankbarkeit und einmalig den zehnten Teil seiner Beute.
2. Jakob
Zwei Generationen später taucht der Zehnte das zweite Mal in der Bibel auf (1. Mose 28,22): Jakob hatte sich den Segen seines Vaters erschlichen und war auf der Flucht vor seinem Bruder Esau. Im Traum sieht es eine Himmelsleiter und erhält von Gott eine große Verheißung. Jakob legt ein Gelübde ab, den zehnten Teil seines gesamten Besitzes einmalig zu geben, wenn Gott ihn bewahren und versorgen würde. Wieder ist der Zehnte eine einmalige Gabe, dieses Mal geknüpft an eine Bedingung.
3. Mosaisches Gesetz
Es dauert ca. 300 Jahre, bis der Zehnte im Kontext des mosaischen Gesetzes erneut auftaucht. Dort gibt es allerdings nicht den einen Zehnten, sondern es sind drei Zehnte:
Der Zehnte zur Versorgung der Priester und Leviten (4. Mose 18,21), die in der Stiftshütte bzw. später im Tempel dienten und kein eigenes Land besaßen (jährlich fortlaufend). Auf Basis dieser Textstelle wird meist argumentiert, den Zehnen der eigenen Ortsgemeinde zukommen zu lassen.
Der Fest-Zehnte (5. Mose 14,22-23) für das Festmahl anlässlich der Pilgerreise nach Jerusalem (jährlich fortlaufend).
Der Sozial-Zehnte (5. Mose 14,28-29) für Arme, Ausländer, Waisen und Witwen (alle drei Jahre fortlaufend). Diese Textstelle rechtfertig es aus meiner Sicht auch, neben der Ortsgemeinde auch anderen Projekten zukommen zu lassen.
In allen drei Passagen des mosaischen Gesetztes wird der Zehnte nicht einmalig, sondern fortlaufend gegeben. In Summe ergibt sich eine jährliche Belastung von durchschnittlich 23⅓ %.
4. Maleachi
Die wohl bekannteste alttestamentliche Stelle zum Zehnten finden wir beim Propheten Maleachi in Kapitel 3. Gott nennt das Volk Israel einen Betrüger, da es ihm den Zehnten vorenthielt. In Folge dessen steht das Volk unter einem Fluch, sodass ein Fresser die Ernten zerstört und die Menschen Mangel leiden. In dieser Situation fordert Gott sein Volk heraus: Wenn sie den Zehnten wieder entrichten, wird auch Gott seine Zusagen zur Versorgung einhalten und die Schleusen des Himmels neu öffnen, um das Volk überreich mit Segen zu beschenken.
5. Jesus
Im neuen Testament bestätigt Jesus den Zehnten (Mat. 23,23): Er fordert die Pharisäer und Schriftgelehrten dazu auf, das Wesentliche (Gottes Gerechtigkeit,Barmherzigkeit und Treue) zu tun, und dabei das andere (die Gabe des Zehnten) nicht zu unterlassen.
Als Ergebnis können wir festhalten, dass es in der Bibel nicht den EINEN Zehnten gibt. An manchen Stellen wird er einmalig vom gesamten Besitz gegeben, in anderen Versen meint er eine fortlaufende Abgabe vom Einkommen, die in Summe deutlich mehr als 10% ausmacht.
Der Zehnte und die Auflaufform
Was können wir nun trotzdem zum Zehnten aus den biblischen Aussagen mitnehmen? Von Pastor Daniel Brown aus den USA las ich einen verblüffenden Vergleich:
Stellen Sie sich vor, Sie sind krank und ihr Nachbar ist so freundlich und bringt Ihnen eine Auflaufform mit Essen. Sie können mit gutem Gewissen genießen, was er Ihnen bringt. Seinetwegen können Sie die Reste sogar in einem Topf aufheben und sogar anderen etwas abgeben. Nur eines sollten Sie nicht tun: die Auflaufform behalten. Das wäre unverschämt.
Pastor Daniel Brown
Der Zehnte, sagt Daniel Brown, ist die Auflaufform. Und der Nachbar ist Gott. Streng genommen gehört das ganze Essen ihm. Doch wir dürfen es für uns gebrauchten. Nur die Auflaufform will er zurück.
Stellen wir die richtige Frage?
Heute nehmen Christen als Haushalter Gottes gerne für sich in Anspruch, nicht mehr den mosaischen Gesetzestexten verpflichtet zu sein (indem sie eine Liste von zu erledigenden Aufgaben abhaken), sondern direkt von der Stimme Gottes und seinem Heiligen Geist geleitet zu werden. Trotzdem wird die gesetzliche Gabe des Zehnten in Gemeinden häufig betont. Wie passt das zusammen?
Könnte es sein, dass wir Christen uns mit dem Geben des Zehnten unbewusst freikaufen wollen? Ganz nach dem Motto: Gott bekommt doch seine 10%, also kann ich mit dem Rest tun und lassen, was ich will? Überspitzt könnten wir formulieren: Wieviel muss ich mindestens geben bzw. was ist die zulässige Untergrenze im Geben, um Gott nicht zu verärgern?
Auf Basis des biblischen Prinzips der Haushalterschaft gibt es nichts, dass wir als unser Eigentum beanspruchen können – Gott gehört alles. Daher geht es im Kern nicht darum, wieviel wir geben müssen. Vielmehr lautet die korrekte Frage: Wieviel von dem, was Gott mir anvertraut, darf ich für mich selbst behalten?
Der Zehnte – und was nun?
Am Ende des Tages sehe ich im Betonen des Zehnten die Gefahr, dass wir unbewusst 90% unseres Einkommens für uns beanspruchen und damit den größten Teil Gott und seinen Plänen vorenthalten.
Um es deutlich zu sagen: Ich meine damit nicht, dass wir den Zehnten nicht geben sollten, ganz im Gegenteil. Wenn wir dieses biblische Prinzip beherzigen, werden wir erleben, was Gott beim Propheten Maleachi verspricht. Treu wird er uns die Auflaufform immer wieder aufs Neue füllen. Und natürlich dürfen wir nach Rücksprache mit ihm auch einen Teil der Versorgung für uns behalten, etwas zurücklegen und sparen oder auch andere daran teilhaben lassen.
Wir sollen vielmehr nicht beim Geben des Zehnten stehen bleiben oder gar stolz darauf werden, wenn wir 10% unseres Einkommens an Gott geben. Der Zehnte ist nichts, das wir Gott abgeben. Der Zehnte ist etwas, das wir Gott zurückgeben.
Die Bibel fordert uns aber heraus, nicht nur den Zehnten zu geben, sondern auch Schätze im Himmel zu sammeln. Beides dürfen wir nicht miteinander verwechseln oder gleichsetzen. Der Zehnte ist die Auflaufform. Sammeln wir Schätze im Himmel, geben wir auch etwas aus der Auflaufform für das Reich Gottes (über 10% des Einkommens hinaus). Mehr zu diesen himmlischen Schätzen haben wir in einem eigenen Artikel geschrieben.
Wenn wir im Dialog mit Gott freimütig geben, müssen wir nicht weiter krampfhaft berechnen, wieviel Euro im Monat denn nun dem Zehnten entsprechen und wie wir diesen Wert berechnen (z.B. vom Brutto oder vom Netto?). Trotzdem kann der Zehnte eine wichtige Richtschnur für unseren Alltag werden:
Training | Die 10%-Regel kann für Christen wie Nicht-Christen zu einem Training für das Loslassen von Geld werden. Indem wir Geld freiwillig weggeben und verschenken, nehmen wir Mammon einen Teil seiner Macht über unser Leben und sagen ihm offen ins Gesicht: Nicht Du bist mein Versorger, sondern der Gott der Bibel: „Jahwe Jireh“. |
Richtschnur | Die 10%-Regel gibt eine Richtschnur für die Höhe von Spenden zur finanziellen Unterstützung der eigenen Kirchengemeinde vor Ort vor. Wir unterstützen die Arbeit der lokalen Gemeinde und finanzieren die Gehälter derer, die ausschließlich für das Reich Gottes arbeiten und keine andere Anstellung haben (analog zu den Priestern und Leviten im Alten Testament, die kein eigenes Land bestellten, um von dessen Ernte zu leben). |
Weiterdenken | Wie wäre es, die 10%-Regel nicht nur auf Geld anzuwenden, sondern auch z.B. auf die Zeit? Auch hier steht die Frage im Raum, ob wir von unserer Brutto-Zeit (10% von 24 Stunden = 2 Stunden und 24 Minuten am Tag) oder von unserer Netto-Zeit (10% von z.B. 14 möglichen Arbeitsstunden pro Tag = 1 Stunde und 24 Minuten pro Tag) als Bezugsgröße ausgehen? Ist der Sonntag von der Rechnung ausgenommen oder gehört er als besonderer, heiliger Tag zu 100% Gott (1. Mose 2,2)? … |
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